Die Entwicklung der Frauenrechte in der Schweiz. Rechtliche und gesellschaftliche Faktoren der Gleichstellung seit 1971
Die Entwicklung der Frauenrechte in der Schweiz seit 1971 zeigt auf, wie kompliziert das Zusammenspiel von rechtlichen Reformprozessen und gesellschaftlichen Machtverhältnissen bzw. Denkmustern ist. Bei Diskursen über Gleichstellung muss zwischen formaler Gleichstellung und der tatsächlichen Gleichstellung unterschieden werden. Auf rechtlicher Ebene markierte die Einführung des Frauenstimmrechts im Jahr 1971 einen historischen Meilenstein zur formalen Gleichstellung der Frau. Auch die darauffolgenden Revisionen von Gesetzen und Ratifizierungen von Verträgen wie dem Übereinkommen zur Beseitigung jeder Form von Diskriminierung der Frau (CEDAW) (SR 0.108) und die Istanbul-Konvention (SR 0.311.35), haben wichtige Impulse für die Stärkung der Rechte der Frau gesetzt. Diese rechtlichen Fortschritte haben ein normatives Fundament für die Gleichstellung gebildet. In der Realität können dennoch auch heute erhebliche Umsetzungsdefizite beobachtet werden, die wohl vielmehr auf patriarchale Denkmuster zurückzuführen sind, als auf das normative Fundament an sich.
Ein Ereignis aus den frühen 1980er-Jahren veranschaulicht diese verankerten Denkmuster der geschlechtsspezifischen Diskriminierung. Während eines Wiederholungskurses der Schweizer Armee verwendeten Offiziere der Festungskompanie II/6 bei einer Schiessübung ein Pin-up-Bild aus der Zeitschrift Playboy als Zielscheibe. Dieses wurde mit einem perfiden Punktesystem versehen. Je nach getroffener Körperpartie wurden unterschiedlich viele Punkte vergeben: Besonders hohe Wertungen erhielten Treffer im Brustbereich, während die höchste Punktzahl für Schüsse auf die Genitalregion vorgesehen war. Auf dieses Ereignis reagierte die feministischen Vereinigung „Organisation für die Sache der Frau“ (OFRA), mit einer Zivilklage wegen Persönlichkeitsverletzung. Die Klage wurde vom Berner Verwaltungsgericht 1982 abgewiesen. Begründet wurde dies mit mangelnder Aktivlegitimation. Klageberechtigt sei ausschliesslich die abgebildete Frau selbst. Meines Erachtens verkennt diese juristische Argumentation den symbolischen Gehalt des Vorfalls: Die Handlung stellte nicht nur eine individuelle, sondern eine kollektive Entwürdigung dar. Sie zeigt die damals, wie auch heute wirksame Tendenz auf, den weiblichen Körper zu objektivieren.
Solche Ereignisse sollten nicht als historische Einzelfälle abgetan werden. Sie verdeutlichen ein fortbestehendes patriarchales Denkmuster, das sich in Sprache, Institutionen und rechtlichen Strukturen wiederfindet. Gewalt gegen Frauen ist in diesem Zusammenhang nicht bloss Ausdruck von individuellem Unvermögen. Wie die Vereinten Nationen festhalten: „Violence against women is a manifestation of historically unequal power relations between men and women“. Das Modell der sogenannten „Gewaltpyramide“ verdeutlicht den engen Zusammenhang zwischen Alltagssexismus und physischer Gewalt: Fundament bilden stereotypische Vorstellungen, sexistische Sprüche und Mikroaggressionen. Je weiter man sich nach oben begibt, umso sichtbarer werden die einzelnen Gewalthandlungen. Vergewaltigung und Femi(ni)zid bilden die Spitze dieser Struktur. Und indem Grenzen verbal wie auch physisch regelmässig überschritten werden, verschiebt sich unsere gesellschaftliche Toleranzgrenze nach oben.
Rechtliche Reformen haben versucht, dem entgegenzuwirken. Ein aktuelles Beispiel ist die Revision des Vergewaltigungstatbestands (Art. 190 StGB), die 2024 in Kraft trat und das Prinzip „Nein heisst Nein“ einführte. Durch die Revision löste sich die Schweiz von der ausschliesslichen Fixierung auf vaginale Penetration. Die geltende Regelung geht dennoch weiterhin davon aus, dass das Opfer seinen fehlenden Konsens ausdrücklich äussern oder Widerstand leisten muss, damit eine Handlung als nicht einvernehmlich gilt. Das Expertengremium GREVIO bemängelt, dass die schweizerische Regelung die Anforderungen von Art. 36 der Istanbul-Konvention weiterhin nicht vollständig erfüllt, da der tatsächlich freiwillige Konsens nicht das zentrale Tatbestandsmerkmal bildet. Denn die Logik von früher, dass ungewünschte Sexualkontakte abgewehrt werden müssen, bleibt indirekt weiterhin bestehen – wenn auch in abgeschwächter Form, und die ausdrückliche Zustimmung bildet noch immer nicht zentrales Element. Internationalen Standards zufolge, müsste jedoch die tatsächliche Zustimmung als ausschlaggebende Voraussetzung etabliert werden. An diesem Punkt ist die Schweiz Stand 2025 noch nicht.
Die Analyse hat gezeigt, dass Änderungen der Gesetzeslage zwar die formale Gleichstellung beeinflussen können, für die tatsächliche Gleichstellung jedoch aufgrund struktureller Faktoren oftmals nicht ausreichen. Erst das Zusammenspiel von Gesetzgebung, öffentlicher Sensibilisierung und sozialer Veränderung kann in der Schweiz zu einer umfassederen und nachhaltigeren Verwirklichung der Gleichstellung zwischen Frau und Mann führen. Damit die Rechte auf Papier auch tatsächlich ihre volle Wirkung entfalten können muss sich demnach die gesellschaftliche Interpretation der Rolle der Frau ändern und patriarchale Strukturen überwunden werden. Eine Herausforderung, die schon früher präsent war und noch immer ist; für eine gesetzliche Veränderung braucht es eine Mehrheit. Für einen Wandel der Gesellschaft hingegen fast jeden. Es liegt an der heutigen Generation dieses System umzudeuten, umzulernen und die materielle Gleichstellung auf allen Ebenen durchzusetzen.
Literaturverzeichnis
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Zeno Geisser, Offiziere feuerten auf ein Pin-up aus dem «Playboy». Die Affäre rund um Sanija Ametis Pistolenschüsse auf ein Marienbild hat ein bemerkenswertes historisches Pendant, in: Neue Zürcher Zeitung NZZ, 13.10.2024.